AM am Ende

Am 31.12. sagt die Mittelwelle zu Deutschland gute Nacht.
Ein paar Erinnerungen bleiben. Unser altes Küchenradio war fast so groß wie wie ein Aktenkoffer, ca. dreimal so breit und fünfmal so schwer. Sein enormes Gewicht war nicht nur den metallenen Innereien geschuldet, von denen immer mehr durch permanenten Transport in Garten oder Kinderzimmer ihren ursprünglichen Platz verließen und vernehmlich durch das Labyrinth an Schaltungen und Röhren kullerten. Jede Achsverschiebung in der Wagerechten erinnerte an das Geräusch einer Flipperkugel, die sich durch allerlei Schellen und Hindernisse den Weg abwärts bahnt. Es war und bleibt ein physikalisches Phänomen, dass sich bei alten Radios durch zunehmende Entropie im Inneren kein äußerer Funktions-, oder Klangverlust einstellt.


Um unser Gerät hatte sich durch den Küchendunst eine mehrere Milimeter dicke Fettschicht gebildet, die seine Innereien, wir erkennen das mit zunehmendem Alter an unseren Bäuchen, vor Stößen, Wind oder Feuchtigkeit schützte. So fuhr das alte Nordmende-Radio mit an die holländische Nordsee. Dort übertrug es, Sandwirbeln, Gischtspritzern und aufgeblasenen Gummibällen trotzend, bestückt mit einer Myriade Batterien die Stimmen des heimischen WDR. Mit „en Zeidung us d’r Heimat un et Radio im Sand“ identifizierten die Bläck Fööss Ende der 70er Jahre diese urdeutschen Urlaubereigenschaft.
Der Senderempfang war technisch nur über die Mittelwellensender möglich, die bei Tag durch ihre hohe Sendeleistung mehrere hundert Kilometer weit reichten. Da der Hersteller unseres Gerätes zum Umschalten des Frequenzbandes zwar einen deutlichen Schiebeschalter „KW/UKW/MW/LW“ vorsah, die Skalen aller Bänder jedoch alle optisch übereinander quetschte, musste man seinen Lieblingssender sowieso nach Gehör suchen. Akustisch unterschied sich die Klangqualität der MW in unserem Radio auch nicht wesentlich von UKW, das Wort „HiFi“ hatte zum Zeitpunkt der Fertigung noch keiner erfunden.
Prinzipiell stört mich die Qualität heute auch nicht so, wenn es um das gesprochene Wort im Radio geht. Bei Musik schon eher. Aber dafür war die Mittelwelle, zumindest in ihren späten Jahren, ja auch nicht gemacht.
Umso interessanter die Vorstellung, dass sich zum dem Beginn des „Unterhaltungsrundfunks“ im Jahr 1923 die Familie, sofern als Rundfunkhörer registriert, um den heimischen Holzkasten setzte, um bei dieser und noch schlechterer Qualität dem Sonntagskonzert zu lauschen. Konzerte, wohlgemerkt, entwickeln den größten wahrscheinlich akustischen Dynamikumfang, der in ein vollkomen unzureichend schmales Frequenzspektrum gequetscht wurde.
Vielleicht ist das eine zu moderne Sichtweise, aber machte nicht gerade die technische Unvollkommenheit, der „Klang-Charakter“, das Spezielle, ja Sinnliche an der alten Mittelwelle aus? Und man denke an die wunderschönen (und das ist nicht ironisch gemeint), an die wunderschönen Radio-Möbel, Schränke, Truhen. Ich habe gefühlt schon Stunden vor diesen Schätzen in den Radiomuseen Dormagen und Duisburg verbracht. Was machen die ehrenamtlichen Betreiber jetzt eigentlich nach dem 01.01.2016, wo sie zuvor sie zum Besucher sagen konnten: „Komm, ich schalte jetzt den Sender Königsberg ein.“ (Pfeiiffff, piieep … war in Wahrheit der Deutschlandfunk, Qualität aber ähnlich).
Aus dem Projekt, dass sich jeder Deutsche ein Auto für 1000 Mark kaufen konnte, ist in Nazideutschland nichts geworden. Anders als aus dem des billigen Radios (auch äußerlich) für jedermann, dem nach dem Datum der Machtergreifung als Volksempfänger VE301 bezeichneten Holzkasten. Ich denke, es hat schon eine große Rolle bei der Indoktrinierung gespielt, dass die Reden im Radio über Mittel- und Langwelle mit relativ guter, klarer, naher Stimme übertragen werden konnten. Wobei auf der anderen Seite sicherlich viele Menschen des Abends in der (verdunkelten) Stube am Radioknopf weitergedreht haben, bis sie die Deutschlandsender der BBC drin hatten. Kampf um die Köpfe.
Direkt nach dem Krieg gab es für Deutschland weder eigene Radiosender (dazu waren die Sendemasten von der eigenen Truppen gesprengt worden) noch erlaubte Empfangsgeräte, so dass Pionier Max Grundig seine Radios zunächst nur als Bausatz verkaufte. Aber die Mittelwelle lebte weiter. Auf ihr übertrug der NWDR die wohl berühmteste aller Sportreportagen, das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft in Bern 1954. Übrigens in einer wesentlich besseren Qualität als das Viertelfinale der WM 1962 in Chile, für dessen Übertragung nach Europa erstmal drei Kurzwellensender über die Anden eingesetzt werden mussten.
Zu dieser Zeit setzte sich aber schon der flächendeckende Siegeszug der Ultrakurzwelle ein. Eigentlich, so ein Fetaurebeitrag von Dradio, als als Ersatzmedium, weil man im Gegensatz zur DDR nicht so starke Sender betreiben durfte. Dazu ein interessantes Detail: Wir sind schon zweimal den Elbradweg gefahren. Der beginnt im sächsischen Elbsandsteingebirge. Man fährt fast bis Dresden zwischen den Berghängen beidseits des Flusses. Da gibt es weder Radio noch kein Mobilfunk. Das sog. Tal der Ahnungslosen. Einige Anwohner haben sich selbst gebastelte, bestimmt 20 Meter hohe Antennen vors Haus gestellt. Die stehen heute noch da. Und damit konnte man, tada, den Mittelwellenfunk aus Westdeutschland empfangen. Zumindest tagsüber, weshalb der Deutschlandfunk sein politisches Programm in die Zeit vor 18 Uhr legte.
Nun hatte ich aufgrund meines Alters weniger Mittelwelle DDR oder Mittelwellen-Piratensendern aus Holland gehört. Selbst Radio Luxemburg gehörte nicht zum primären Programm-Speiseplan. Allerdings habe ich mir noch im Jahr 2008 ein mobiles Mittelwellenradio gekauft. Bekloppt was? Auslöser war die Einführung des Toppspiels der Bundesliga am Samstag, dass ich erstens gerne unterwegs und zweitens aus Tradition immer am Radio verfolgen wollte.  Die Infosender der ARD (WDR Event, NDR Info usw) übertrugen diese Spielen zu Beginn vollständig auf unterschiedlichen Wegen. Digitalradio war damals aber viel zu teuer und keinesfalls mobil, Internet (also 3G) in dieser Stream-Größenordnung auch undenkbar.
Ich habe mir zwar zwischenzeitlich, als DAB+ bei uns in Köln einigermaßen gut verfügbar war, für 60 Euro so ein mobiles NoName-Plastikteil geholt. Klangqualitativ hat mich das neue Digitalradio ehrlich gesagt nicht überzeugt: Merkwürdige Senderauswahl und (wahrscheinlich per HE-AAC auf 32kbit oder 24kbit) runterkomprimierter Stream, Aussetzer und nervend langer Neuaufbau. Heute klappt’s mit Internet und größerem Datenpaket besser, aber eben auch nur digital: Wo kein Signal ist, da setzt es aus. Auf analoger Mittelwelle, die auf meiner Joggingstrecke ständig (mit Zwischenschritten!) zwischen 774 Khz Bonn Venusberg und 720 Khz Sender Langenberg gewechselt werden wollte, hat es in solchen Fällen nur etwas mehr gerauscht. Manchmal kam, durch die Signalüberlagerung auf AM in der Nacht, auch ein Italinier rein, aber wir sind ja weltoffen in Köln.
Doch Spaß beiseite: Die Pendler im Ausland oder die Schiffe auf See haben jetzt keine so guten Karten mehr. Ich weiß nicht genau, ob man das alles per Satelitenverbindung abfangen kann. Oder wie können Einsatzkräfte den Kontakt mit der Bevölkerung bei einer Katastrophe mit digitalem Blackout aufrecht erhalten? Naja, wahrscheinlich sowieso nicht mehr über die alten Röhrenradios.
Jetzt schaltet er bald seine Mittelwellenmasten ab, der brauche Turm mit dem leuchtenden Dreickeck auf dem Dach, den ich jeden Tag auf meinem Weg am Rhein in Radertal sehe. Dem Stromverbrauch kommt’s definitiv zugute. Aber irgendwie war der Sound auch sexy.