Wer dösend im Bummelzug am romantischen Mittelrhein entlangzuckelt, dem blubbert der Wassergeist unterhalb der Loreley merkwürdige Geschichten ins Ohr. Wie diese hier (auf der Rückkehr von einem Fahrradurlaub).
Die Morgensonne schickte ihre Speerspitzen gegen seine Nasenspitze. Er grunzte unwillig und begann im Halbschlaf herunterzuzählen: 6 – 5 – … 1 – JETZT. Worauf St. Hubertus zum Dorfe mit kräftigen Klöppel einstimmte und dieselbe Zahlenreihe wieder aufwärts zählte: 1 – 2 – 3. Mit dem vierten Glockenschlage riss er sich die Bettdecke herunter, auf die 5 folgte – unter leichtem Schwindelgefühl – die athletische Drehung in Sitz- und Aufrecht-Position , mit der 6 dann der Hüftaufschwung mit halber Schraube in den senkrechten Stand. Den Bauch wölbend, durchbrachen archaische Presslauten aus seinem tiefsten Inneren die sanfte Unschuld des Schlafzimmers. Er torkelte zum Fenster, wobei ihm das Blut durch die Krampfadern abwärts bis in die Zehen schoss und diese an fehlenden Pantoffelschutz erinnerte. Schlaftrunken griff er zum Fensterriegel und stieß sich, da seine Aufmerksamkeit ausschließlich dem nun auszuführenden Armschwung galt, wie üblich die dicke Zehe an der Fußleiste. Endgültig wachgerüttelt vom Schmerz stellte er sich in die kühle Woge aus Sonnenlicht, um aus klaren Augen auf den alten Vater Rhein zu schauen. Doch der alte Vater Rhein, der seit abertausend Jahren in seinem engen Bett hier am romantischen Mittelrhein schlief, war fort.
Jupp Rheindorf war seit 50 Jahren Bürgermeister von Kleinrheindorf und hatte schon viele wunderliche Dinge gesehen. Vor allem nach ausufernden Weinfesten. Aber dass der Rhein plötzlich weg war …
Er stürzte im Schlafanzug aus der Wohnung und hastete barfuß entlang der kleinen Kirchmauer von St. Hubertus zum Dorfe hinunter zum Fluß. Besser zu dem, was davon übrig geblieben war. Im leeren Sandbett räkelten sich nun Schätzte aus Jahrtausenden Menschheitsgeschichte: Verostetet Fahrräder, erzbeschlagene Amulette aus dem Nibelungenhort, leere Benzinkanister und Glückspfennige.
Jetzt mal langsam, Jupp! Jedes physikalische Phänomen hat seinen logischen Grund. Er fingerte im Schlafanzug nach dem iPhone und rief seinen Bruder Hennes Rheindorf, den Bürgermeister von Großrheindorf am Oberrhein an. „Hennes, hier bei uns in Kleinrheindorf läuft die Evolution gerade ziemlich schnell, ähh… Habt ihr bei euch noch Wasser im Rhein?“ Am anderen Ende stöhnte jemand. “Jupp, hast du gestern zu oft die Weinkönigin geküsst?“ „Och Hennes, nun bleib sachlich. Mehr als 10 Bier und 2 Schnäpse waren’s nicht.“ Oder umgekehrt? „Egal, bitte sieh mal nach!“ Jupp hörte seinen Bruder langsam fort torkeln, das Quietschen eines sich öffnenden und schließenden Fenster, danach wieder nahendes Torkeln. „Is noch da.“ TutTutTut.
Jupp begann an seiner Wahrnehmung zu zweifeln. Hatte ihm gestern jemand was ins Glas geschüttet? Vielleicht Drogen? Um sicher zu gehen, wählte er die Nummer der Rheinwarte in Köln. „Hier Standpunkt Kleinrheindorf, Mittelrhein. Ähh, haben Sie auf Rheinkilometer 700 noch Wasser im Fluss? Wir müssen von km 500 leider einen Pegel 0 vermelden.“ Am anderen Ende räusperte sich jemand: „Dieser Pegelstand scheint zumindest in ihrem Blut nicht vorzuherrschen. Legen Sie sich wieder ins Bett, Mann!“ TutTutTut.
Jupp starrte verdattert auf das Gerät, bis ein leises und doch so holdes Wimmern und Wehklagen an sein Ohr drang. Es kam von der langhaarigen Langzeitstudentin, die man schon seit 25 Jahren als liebliche Loreley zangsverpflichtete. „Wie komme ich nun über den Fluss?“, schluchzte sie. „Die versprochene Brücke hat man nie gebaut und ohne Wasser fährte die stinkende Dieselfähre nicht. Stattdessen liegt da alles voller Scherben und im Vertrag steht doch, dass ich barfuß auf den Felsen gehen muss.“ Sie weinte bitterlich.
Jupp war plötzlich in seinem Bürgermeisterelement und munterte die Dorfschönheit auf: „Wir kümmern uns. Die Brücke ist schon unterwegs. Aber bis die Sache geklärt ist, könntest du doch in die Uni nach Rheinstadt gehen. Wir zahlen natürlich die Fahrtkosten.“ Dabei fiel ihm ein, dass Bus- und Bahnverbindung im Dorf seit langem ausgebaut werden sollten. Jetzt würde er sich wirklich kümmern müssen.
Jupp telefonierte den Tag über wie wild, mit Geologen, Paläontologen, Soziologen, Stadtverordneten. „Und halten Sie auf jeden Fall die Presse aus dem Spiel: RTL explosiv würde Kleinrheindorf vernichten. Kein Tourist käme mehr zum romantischen Mittelrhein.“ Zu spät, draußen fuhren schon die Kamerawagen von RTL explosiv vor. Wie erwartet stellte man die Schuldfrage: Für die Grünen war die Klimaerwärmung, der vaterländische Gesangsverein vermutete Flussnapping durch die zwei im Dorf lebenden Ausländer, für die Konservativen lagen die Wurzeln aller Katastrophen in den Altlasten der kommuninisten Landesregierung unter Johannes Rau.
Tatsächlich ergab das wissenschaftliches Gutachten ein paar Tage später, dass sich unter dem Rhein an km 500 eine frühzeitliche Schieferplatte gelöst hatte und der Fluss deshalb auf einer Strecke von 5 km unterirdisch weiterfloss. Und das gerade am Fuße des berühmtesten Felsen im Mittelrhein!
Jupp leitete die Aufräumarbeiten am Flussbett ein und im Dorf entstand, aus der Not geboren, die lange geplante wirtschaftliche Infrastruktur mit Bussen, Bahnen und einer wissetschaftlichen Bibliothek.
Doch fraßen die Maßnahmen ein großes Loch in die Dorfkasse, so dass Jupp im Nachbarort Mittelrheindorf beim Malte, der was mit Medien machte, um Hilfe bat. Medienmensch Malte sah sofort das große touristische Event: So ein stiller Rheinarm, das müsse man auskosten, mit großem Feuerwerk, Riesenparty, Alles in Flammen, und am Schluss stäche ein 30 Meter hoher Plastikneptun mit einem gigantischen Dreizack in einen Phosphorballon, und es würden Gummis und Alkopops in allen Farben des Regenbogens auf die jubelnde Menge regnen.
„Aber Vorsicht!“, gemahnte die langhaarige Langzeitstudentin, die Jupp nicht zuletzt aufgrund ihrer optisch vortretenden Medientauglichkeit in den Planungsstab berufen hatte. „Wir haben in der Vorlesung gelernt, dass durch große Feste Eruptionen entstehen und sich damit durch die Bodenwellen vielleicht sogar Schieferplatten verschieben können. Und plötzlich haben alle Gäste einen nassen Hintern.“
Jupp jedoch, wie Medienmensch Malte kein Anhänger wissenschaftlicher Vorträge, sah nur die wirtschaftliche Rettung. Wohlan, Scherben waren beseitigt und Tränen versiegt. So veranstalteten Jupp und Malte das gigantische Spektakel, mit Touristenbussen, Woodstock-Feeling und einem eigenen Youtube-Channel.
Und dann um Mitterncht geschah es: Nachdem DJ Dröhn und Dr. Donner die 50000-Watt-Anlage bis zum Anschlag aufgedreht hatten, sackte eine riesige Schallwelle durch das trockende Flussbett, traf auf die verschobene Schieferplatte und drehte sie in ihre Ausgangsposition, wodurch sie das unterirdische Rheinloch wieder verschloss. Und das Wasser kam mit aller Gewalt zurück und spülte den ganzen Müll, die Gummis, Alkopos und Grillroste, fort Richtung Köln.
Nur an ein paar Japanern, die das Naturschauspiel aus nächster Nähe mit der Nikon festhalten wollten, musste Jupp am nächsten Tag vorbeikondolieren. Und als er in der Abendsonne von der Kirchenmauer an St. Hubertus auf den alten müden Strom hinabblickte, sprach Jupp voll Dankbarkeit: „Nun ham mer dech widder, Vatter Rhein! Und dazu noch een schön Infrastruktur. Und den janzen Dreck würden die Dörfer ohne dich doch nie fott bekomme.“
(Oder was glaubt ihr, wie das ganze Zeug nach Köln kommt: Kölner Stadtanzeiger vom 16.11.2015)