Ger vs Arg: Das Buch der Geschichte

1986 war ich 11 Jahre alt. Als Kind hatte man natürlich einen (oder mehrere) Lieblingsspieler und (mindestens) ein Trikot seiner Lieblingsmannschaft. Das bestand damals aus solidem Stoff mit Bündchen am Handgelenk, damit auch kein Schweiß heraus- oder ein Insekt hineinlief. Rückennummern waren bereits aufgenäht, Spielernamen über selbigen fehlten noch. Die echten Namen übrigens; Comics wie „Hulk“ hätte der stets um die Erziehung der Jugend bemühte DFB bestimmt verboten. Heute hingegen dürfte sich ein Dieter Hoeneß den „Glatzenkönig“ aufdrucken lassen.
In meiner Erinnerung gab es auf den Bolzplätzen der ’80er keine Messis, Ronald- oder Ronaldinhos. Die Globalisierung hatte die Dörfer Deutschlands noch nicht erreicht. Doch jede WM gebar ihren Star und das war 1986 zweifelsohne Diego Armando Maradona. Der kleine Wuschelkopf war vom großen Menotti acht Jahre zuvor bei der WM im eigenen Land nicht berücksichtigt worden, so hier der Star Mario Kempes. 1982 ließ es Maradona dann krachen, aber auf sehr unrühmliche Weise: Ein Tritt mit den Stollen voraus auf den Oberschenkel seines brasilianischen Gegenspielers brachte ihm statt Ruhm Rot.


Bei der WM in Mexiko habe ich den berühmten Argentinier dann erstmals „live“ im Fernsehen gesehen (vier Jahre früher war man als Ferien-Kind noch auf die Spielwiederholung im Morgenprogramm von ARD/ZDF angewiesen). Und nach seinem epochalen Auftritt gegen die Engländer (Hand Gottes und das Solo mit von der Mittellinie) ward zum Endspiel nun endgültig das Buch der Geschichte aufgeschlagen. Am Tage des Herrn versammelten sich die Familien (so neu ist das „Rudelgucken“ gar nicht) unter dem größten Carport der Nachbarschaft. Fernseher in Holzrahmen statt Beamer auf Beistelltisch. Und darin dieser Hexenkessel Aztekenstadion, in dem die argentinischen Fans bis über die Brüstung hingen. Im Gegensatz dazu der eher glückliche Trunierweg der deutschen Mannschaft: Man wußte irgendwie schon, was passieren würde. Und nach den zwei Standards zum zwischenzeitlichen Ausgleich spielte natürlich Maradona diesen einen tödlichen Pass, den er vier Jahre später – wieder gegen Brasilien – noch einmal wiederholen sollte: Die Lücke sehen, wo keine ist, den startenden Mitspieler, dem nur dem Laufweg des Balles den Weg zum Tor folgen muss, nicht umgekehrt. Deutschland war geschlagen. Unter dem Carport lange Gesichter, im Fernseher kurze Siegerehrung, jeder klappt seinen Campingstuhl zusammen, dann nach Hause ins Bett.

Anders 1990. Die Deutschen hatten sich ein packendes Match mit England geliefert: Beim Elfmeterschießen konnte Illgner dann wenigstens einmal nicht rechtzeitig in die falsche Ecke springen, der nächste Brite schoss aus Wut mit aller Wucht dann gleich über die Latte. Auch Argentinien war mehr schlecht als recht durchs Elferschießen ins Finale gestolpert. Bemerkenswert an deren Halbfinale war, dass die Zuschauer in Italia nicht ihrer heimischen Mannschaft mit Star Salvatore Schillaci zujubelten, sondern (das Spiel fand ich Maradonas „Heimat“ Neapel statt) dem Team der Argentinier. So drückte der bereits dickliche Weltfußballer dem größten Turnier der Welt letztmalig seinen Stempel auf, denn im Finale fehlte ihm jegliche Möglichkeit dazu. Ein vergleichsweise übrigens eher langweiliges Spiel mit einer überlegenen deutschen Mannschaft, einem Elfmeter, der nicht gegeben wurde, keinem Elfmeter, der gegeben wurde, einem mehrfach über den Rasen purzelnden Klinsmann und zum Schluss zwei roten Karten. Wir haben das Spiel schon auf Leinwand geschaut, pikanterweise in Holland. Die Niederländer waren gegen ein überragendes Deutschland im Achtelfinale ausgeschieden und entschieden sich deshalb aus Rache, die erste Halbzeit lang auf holländisch zu übertragen. Macht der Ikonen am Ende: Der still wandelnde Beckenbauer als Kontrast zum still weinenden Maradona. Wieder wurde Geschichte geschrieben.

Maradona war dann zwischenzeitlich ganz unten, hatte viel mit verbotenen Substanzen zu tun, wurde von seinem letzten Turnier 1994 ausgeschlossen. Konnte auch als Trainer nicht mehr brillieren, man denke an das argentinische Chaos im Viertelfinale der WM 2010. Seine politischen Statements, die er gerne und ungefragt raustwittert, sind eher frag- als erinnerungswürdig. Das Buch der Geschichte hat sich für ihn längst wieder geschlossen. Trotzdem, trotz aller Zidannes und Co., bleibt er mein Fußballstar. Einfach, weil er zur richtigen Zeit den richtigen Fußball gespielt hat.

Und heute Abend? Für wie viele 11jähre – auch in Deutschland – ist Messi DER Fußballer ihrer Kindheit. Wie viele Barca-Trikots sehe ich täglich zwischen Rheinpark und Poller Wiesen? Messi hat fast alles erreicht von nationalen Cups bis zum Gewinn der Championsleague, aber der eine Pokal, der Weltpokal fehlt ihm noch. Das Buch der Geschichte hat sich wieder geöffnet. Und wenn heute Abend Argentinien ein Tor mehr macht als Deutschland – was alle Götter verhüten mögen – dann wird Messi auf irgendeine geniale Weise daran beteiligt sein.
Doch wird das, kann das überhaupt passieren? Aufgrund der geschlossenen, stets soliden Mannschaftsleistung des deutschen Teams eher nicht. Sofern Jogis Jungs die nach dem 7:1 wohl unweigerlich aufkommende Siegesgewissheit wegzublenden in der Lage sind. Da steht heute ein ganz anderer Gegner in einem ganz anderen Spiel unter ganz anderen Voraussetzungen da. Aber es ist mehr als nur eine Chance: Es ist eine sichere Chance. Es wäre an der Zeit. Komm, Deutschland, ihr packt das! Tragt euch selber ein.

P.S.: Ich lasse diesen Beitrag so stehen, egal was am Ende dieses Tages, am 13. Juli 2014,  passiert sein wird.