Public Schimpfing

Ich mag das Fußballschauen mit mehreren Leuten. Überhaupt gefällt mir das Gesellige dieses Sports: Die Regeln sind so einfach, dass niemand sie en detail kennen muss. Aufpassen braucht auch keiner, weil es seit 1970 eine Zeitlupe gibt. Sonnenwandeln auf dem Boulevard der Sprache. Apropos Public Viewing: Ich finde, dass Begriffe aus anderen Sprachen (Lehnwörter) bei der Einreise nach Deutschland durchaus ihr Recht auf eine neue Bedeutung wahrnehmen dürfen.
Allerdings führt Schwarmintelligenz aus fußballersicher Sicht manchmal grenzwertigen Forderungen, von denen ich folgende in meinem Gedächtnis geparkt habe:

„Die müssen mehr über die Außen kommen.“

Die Außen ist Neutrum und Plural von Das Außen. Und über dort müssen sie vor allem dann mehr kommen, wenn sich da eher wenig Gegenspieler aufhalten. Hat die gegnerische Mannschaft jedoch ihre Außenpositionen selbst gut besetzt und ist die Mitte auch dicht, so bemerkt Herr Rethy seit fast 20 Jahren treffend: „Sie finden aktuell keine Mittel.“

„Der Olli hätte den gehabt.“

Hätte Olli jeden Ball gehabt, hätten wir vielleicht schon früher einen Stern mehr gehabt.

Systeme ändern sich, und wenn man früher die eigene Torlinie aus Sicherheitsdenken nicht mehr als zwei Schritt verließ, so dürfen auch Torwarte heute antizipieren. Dasselbe gilt für Feldspieler: Gerade weil ein Beckenbauer seinerzeit ein begnadeter (und grätschenfreier) Libero war, ein Gerd Müller sich seine Tore durch „Erwuseln“ des Balles meist selbst aufgelegt hat, umso weniger funktionieren solche Dinge in einem modernen, von der individuellen Klasse auf die Mannschaft hin orientiertem System.

„Schiri, das ist Gelb!“

Tatsächlich gibt es ein – sich in seinen Schwerpunkten ständig änderndes – Regelwerk, was genau „Gelb ist.“ Klassiker wie die Grätsche von hinten oder das taktische Foul am durchlaufenden Spieler stehen außer Frage. Allerdings bleibt Schiri immer noch ein Ermessensspielraum. Und bloß weil der Spieler der eigenen Mannschaft besonders hoch und weit abheben kann, ist es im Interesse des weiteren Spielverlaufs nicht immer sinnvoll, sofort mit Karten um sich zu werfen.

„Warum läuft der nicht? Ja, warum bleibt der denn stehen?“

Wahrscheinlich, weil er gerade aus dem Abseits kommt und deshalb – bis zum Entstehen einer neuen Spielsituation – nicht mehr ins Geschehen eingreifen darf. Oft hat er nämlich gepennt und ist – beim Ballbesitz der eigenen Mannschaft – zusammen mit der Abwehrkette nicht den entscheidenden Schritt nach vorne gegangen. Insofern kann er das gut gemeinte Zuspiel des Mitspielers nur passieren lassen und sich bestenfalls danach wieder als Anspielstation anbieten. An der voreiligen Verurteilung vor der Leinwand ist allerdings oft die seitlich erhobene Kameraperspektive schuld, durch die das Einschätzen einer geraden Linie erschwert wird. Wir kennen das von Schrecksituationen, in denen ein Abwehrspieler den Ball im Strafraum scheinbar kerzengerade in die Luft haut, dieser jedoch beim ebenso geraden Runterkommen plötzlich hinter die seitliche Auslinie fällt.

„7:1 gegen die starken Brasilianer: Das heißt min. 14:2 gegen die schwachen Argentinier.“

Oder auch nicht. Aus eigener euphorischer wie leidvoller Erfahrung als Hobbyfußballer kenne ich drei Spielarten desselbigen: 1.) „Haste Scheiße am Fuß, haste Scheiße am Fuß.“ Diese Weisheit des Fußballphilosophen Andreas Brehme gilt damals wie heute. Manchmal kann man in der nominell wesentlich besseren Mannschaft spielen, aber irgendwas hemmt den Spielfluss. Und wenn man selbst dieses Etwas ist. Das pflanzt sich im Spiel unaufhaltsam fort. Und nichts, aber auch gar nichts gelingt. 2.) „Jeder geht rein.“ Das ist sowas wie der Ring des Polykrates. Irgendwie klappt plötzlich alles. Zunächst erkennbar an vermehrtem Ballbesitz der eigenen Mannschaft, ankommenden Pässen, Zauberfußball, Tore aus unmöglichen Situationen. Und in der 90sten geht noch die unkontrollierte Flanke an die Unterkante der Latte und von da ins Tor. 3.) „Das normale Spiel“ Während die ersten beiden Formen Extreme sind, handelt es sich beim normalen Spiel um die Summe des Könnens und Nichtkönnens aller Einzelteile als Mannschaft, abzüglich Tagesform, Glück und Pech. Und an letzten beiden Komponenten wird deutlich: Unvorhersehbar ist das Ganze immer.

„Ich habe schon das Endspiel … gesehen: Da haben wir den Gegner richtig platt gemacht.“

Stimmt so auch nicht. Beim Endspiel in München vor 40 Jahren konnte jeder froh sein, gerade in der zweiten Halbzeit von den Holländern nicht die Hucke voll bekommen zu haben. Auch die Endspiele ’54 und ’90 waren bei genauerer Betrachtung nicht so überdeutlich überlegen, wie es die spätere Verklärung der Vergangenheit belegen möchte. Vergesse ich aber auch ganz gerne.

„Der X sollte auf Position Y spielen.“

Das ist einfach nur Nachplappern der Medien. Der gemeine Zuschauer würde mit oder ohne deren taktische Belehrung maximal eine Viererkette erkennen, wenn deren Bestandteile erkennbar zu viert auf einer Reihe stehen. Und wenn Herr Löw bestimmt, wo ein Herr Lahm nominell spielt (wahrscheinlich bestimmt es Letzterer sogar selbst / droht mit Beleidigt-Sein), so heißt das ja nicht, dass der Spieler diese Position je nach Spielverlauf nicht auch „interpretieren“ kann. Also: Erst wenn der Trainer um einen Spieler mit Schlagsahne ein Radius-Rechteck zieht, dann darf man sich über eine „völlig falsche Entscheidung“ beschweren.

„Ich bin Fan durch und durch.“

Aber nur, wenn Folklore (WM, EM) ist. Oder anders: „Ich bekomme vom Spiel zwar nie was mit, aber war echt geil.“ Gerade die „langjährigen Fans“, ob nun von Nationalmannschaft oder einer Bundesligatruppe, überraschen nicht selten durch eine gnadenlose Unkenntnis der Historie ihrer Idole. Mein aktueller Favorit kommt aus einer Vorberichterstattung von 1live zum Championsleague-Finale zwischen Dortmund und Bayern im Jahr 2013 aus der Dortmunder City. Dort hatte der Radiosender eine Bühne aufgebaut, die nach und nach aufgrund der dortigen Toilette auch für die Besucher interessant wurde (die Stadt der Biere hatte nämlich selbst wenig eigene Vorkehrung zum Ablassen desselbens getroffen). In ihrer eigenen Not entschieden sich die Moderatoren, nur den Strom derjenigen zu ihrem Örtchen durchzulassen, welche folgende triviale Frage beantworten könnten: „Wer schoss beim letzten 3:1-Championsleague-Titel der Borussia 1997 die ersten beiden Tore?“ Das war dann doch zu schwer für die angestauten Public-Viewing-Borussenfans. Zumindest tippte einer auf Lars Ricken. Nicht ganz richtig, hätte ich persönlich aber durchlaufen lassen. Echte Fans halt.