Der himmlische Herr Pirlo

Ein Vorrundenspiel im tropischen Klima dürstet nach dem Schlusspfiff. Nur noch ein direkter Freistoß. Unmögliche Torentfernung. Der Ball fliegt auf die vom Schützen aus gesehene linke Torseite zu. Viel zu hoch. Und dann, plötzlich, scheint dem Ball bewusst zu werden, wer ihn soeben getreten hat, wer hier eigentlich die Richtung vorgibt. Und ändert abrupt seine Flugbahn, um gegen die Flugrichtung des hilflosen Torwarts unter ihm spektakulär rechts an der Latte Beifall zu klatschen.

pirloDie Kamera fährt auf den Spieler am Freistoßpunkt zu. Wir erwarten das bekannte Schauspiel für die Fernseh-Zuschauer: Nach oben zum Videowürfel schielen. Bin ich frontal drauf? Passt die Haltung, sitzen die Haare? Dann Oberkörper zurückwerfen, Augen zu, Luft auszischen: Die ganze Szene läuft in ihrer spektakulären Einzigartigkeit in des Schützen Geistes unsichtbarer Zeitlupe ab.
Doch am Freistoßpunkt steht, Hände aufgestützt, nur ein kleiner Italiener. Der schaut eher sauer drein, weil er sich die vergebliche Anstrengung auch hätte schenken können. Haar und Bart bedecken das Gesicht mittlerweile wie bei einem Yeti. Deutlicher kann ein Mann nicht zeigen, wie wenig ihn das ganze Geschehen da außen, auch die Kritik an seiner Person (genial, aber zu alt, nicht mehr schnell genug, Zenith überschritten) interessiert. Wahrscheinlich ist es dem Herrn Pirlo schon zuwider, in der Tradition von Gelfrisur und Designertrikot kicken zu müssen.


Er sieht wie immer innerlich cool aber äußerlich durch die Hitze wie der Leibhaftige aus. Dabei ist die Frage: Hat der sich überhaupt bewegt im Spiel? Wir hatten bis 1 Uhr Freunde zu Gast, so dass ich ihm erst in der zweiten Halbzeit des Spiels gegen England zusehen konnte. Eine Halbzeit, die schnell erzählt ist: Italien macht wenig, Balotelli macht nichts, dann macht Balotelli ein Tor, dann wieder nichts, dann wird er ausgewechselt. Das übrige Spiel rennen die Engländer über den rechten Flügel aufs italienische Tor zu und bleiben dort immer am Strafraum hängen.
Pirlo rennt nicht rum. Er läuft eigentlich auch nicht. Er macht aber genau das, was im Spiel noch wichtiger als Tore und deren Verhinderung sind: Er ist einfach immer da. Beckenbauer hat mal in seiner Unvergleichlichkeit gesagt: Was soll ich umeinander laufen, wenn nicht mal der Ball in der Nähe ist?
Den Ball zu bekommen, zu haben, ist die eine Sache. Doch dann die Frage: Was mache ich nun mit ihm? Wer hilft mir? Mir geht das beim eigenen Fußballspielen oft so. Wenn es im von Gegnern überfüllten Mittelfeld weder vor noch zurück geht, wenn als Notlösung maximal der weite Schlag nach vorne bleibt, genau dann brauchst du einen Andrea Pirlo, der immer in deiner Nähe ist und sagt: „Kein Problem. Gib mir die Kugel. Ich mach schon.“ Solche Spieler verstehen ein Spiel, können es entwickeln, lenken, Torraumszenen nicht dem pure Zufalls überlassen.
Wenn wir als Kinder gespielt haben, gab es zu Beginn immer das sog. Tipp-Topp. Man geht Fuß für Fuß auf einen anderen zu und der Gewinner darf den ersten Spieler für seine Mannschaft auswählen. Ich habe mich schon damals lieber für den Mittelfeldstrategen als für den tollen Stürmer entschieden. Und noch ein Kindheitsszene wird wach. In den alten Bud-Spencer-Filmen kam es stets zu einer Klopperei, in der 10 Mann von allen Seiten auf den bärtigen Koloss einsprangen und ihn unter sich bedeckten. Um nach 2 Sekunden allesamt in alle Richtungen durch die Luft zurückzufliegen.
Auch im Spiel England-Italien gab es diese bekannte Szene wieder. Pirlo kriegt den Ball im Mittelfeld und zieht dadurch 3-4 Engländer auf sich. Aus dem Zentrum des Getümmels dann der 50-Meter-Pass. Natürlich aus dem Fußgelenk, natürlich exakt auf den eigenen Mitspieler. Um Herr Pirlo tritt aus dem Haufen und wischt sich wie Bud Spender symbolisch den Staub von Schultern. Wahrscheinlich könnte der Italiener mit verbundenen Augen in die komplett falsche Richtung schießen: Der Pass käme trotzdem genau auf den Fuß des Mitspielers.
Heiligsprechungen von Sportlern zu ihren aktiven Zeiten sind für diese selten zuträglich. Schon unser Kaiser Franz hätte nach seiner Kanonisierung nicht mehr in die Niederungen des deutschen Nordens zurückkehren sollen. Auch bei der aktuellen WM scheint der Hl. St. Iker dem Spielgeschehen mehr und mehr zu entrücken. Der italienische Mittelfeldregisseur Pirlo ist ebenfalls auf dem Weg in die höheren Sphären, genießt schon die Leichtigkeit der Wolken, steht aber physisch und mental noch voll auf dem Rasen. In seiner vermutlich letzten Weltmeisterschaft. Hätte er uns nicht schon mehrfach (indirekt) rausgeschossen, so würde ich ihm und seinem Team den Weltpokal gönnen. Tu ich aber dann doch nicht.